Rezension
22. Juli 2024 – von Burkhard Sievert
Das Buch Der Etatismus der Sozialdemokratie[1] von Willy Huhn (1909 – 1970) ist eine umfassende und radikale Kritik der Sozialdemokratie als geschichtliche Erscheinung, keine politische Polemik gegen sie als Partei. Der Name der Partei ist nicht relevant, die sie tragende Idee ist es. Von daher beginnt dieser Artikel mit Ludwig von Mises (1881 – 1973), um die gegensätzlichen Ideen herauszuarbeiten.
Die gegensätzlichen Ideen
„Ideen können nur durch Ideen überwunden werden. Den Sozialismus können nur die Ideen des Kapitalismus und des Liberalismus überwinden. Nur im Kampfe der Geister kann die Entscheidung fallen“
Ludwig von Mises (1932), Die Gemeinwirtschaft, S. 471.
Die beiden im Zitat genannten gegensätzlichen Ideen gründen in Selbstbestimmung (Liberalismus) oder Fremdbestimmung (Sozialdemokratie). Etwas anderes gibt es nicht. Von daher sind räumliche Zuschreibungen wie „links“ oder „rechts“ fehl am Platze.[2] Sie tragen nichts Inhaltliches zu den Ideen bei. Letztendlich geht es um die Wahl, wer wählt was für wen. Im Liberalismus wählt der Einzelne seine Ziele in Kooperation mit anderen Menschen. Liberalismus ist Gesellschaft von unten nach oben.
„Demokratie ist Selbstbestimmung, Selbstverwaltung, Selbstherrschaft“
Ludwig von Mises (2014, 1919), Nation, Staat und Wirtschaft, S. 37.
Das griechische Wort „Demokratie“ heißt zu deutsch in etwa „Gemeindesouveränität“, also mit einem eher kleinräumigen Bezug. Die griechische Kleinstaaterei steht für Föderalismus und nicht für Zentralismus. Im Kapitalismus „herrscht“ mit Freiwilligkeit, Kooperation und Konkurrenz die Demokratie des Verbrauchers, und die demokratischen Prinzipien lauten Freiheit, Frieden, Wohlstand. Der Feind der Freiheit ist der zwangsweise rechtsetzende Staat, nicht das Unternehmertum. Ein Staat, der sich dem Schutz der (persönlichen) Handlungsfreiheit verpflichtet, ist ein ganz anderer als der Wohlfahrtsstaat, der sich der (kollektiven) Freiheit von Not- also der materiellen Gleichheit – verpflichtet. Demnach wäre der gut versorgte Insasse eines Gefängnisses frei und derjenige, der sich in freier Kooperation seinen Unterhalt verdient, ist es nicht. Der Wohlfahrtsstaat erfordert Etatismus und wird für spezielle Umverteilungszwecke eingesetzt. Die Aufgaben des Staates nach liberaler Auffassung ergeben sich aus dem Schutz des Eigentums, alle weiteren Aufgaben folgen daraus:
„Das sind die Aufgaben, die die liberale Lehre dem Staat zuweist: Schutz des Eigentums, der Freiheit und des Friedens“
Ludwig von Mises (42006, 1927), Liberalismus, S. 33.
Ein anderer liberaler Denker, Anthony de Jasay (1925 – 2019), betrachtet Eigentum als eine Freiheit, denn es gibt niemanden, der daran ein Recht hat. Demnach müsste der Eigentümer selber für den Schutz seines Eigentums sorgen, er könnte darüber z. B. einen Vertrag mit einem Staatsdienstleister abschließen. Da der Mensch nur in Freiheit selbstbestimmt (souverän) handeln kann, vertritt er die Ansicht, dass wir nicht einmal in der Theorie etwas als legitim anerkennen sollten, was gemäß seiner Natur die Anwendung grundlegender kollektiver Zwangsgewalt impliziert.
„Der Etatismus ist als Theorie die Lehre von der Allmacht des Staates und als Praxis die Politik, die alle irdischen Dinge durch Gebote und Verbote der Obrigkeit zu ordnen bestrebt ist. Das Gemeinschaftsideal des Etatismus ist ein besonders gestalteter […] Staatssozialismus“
Ludwig von Mises (2005, 21924), Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel, S. 226.
Die Sozialdemokratie und der Marxismus erkennen das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht an. Beides sind Kollektivismen. Die Sozialdemokratie ist Etatismus und setzt auf Verstaatlichung der Produktionsmittel. Der Etatismus der Sozialdemokratie führt in den totalen Staat. Das Beispiel Russland zeigt, dass auch der Staatssozialismus notwendig immer ein nationaler Sozialismus bleibt.[3] Das deutsche Wort für sozial heißt gesellschaftlich. In diesem deutschen Wortsinn wäre Sozialismus eine vom Staat befreite Gesellschaft. Vergesellschaftung ist eine selbstorganisierte Gesellschaft.[4] Staat und Gesellschaft sind gänzlich unterschiedliche Begriffe. Der Staat ist eine „rechtsetzende“ Institution. Er ist eine über der Gesellschaft stehende Macht und verfolgt – durch die Regierung – eigene Interessen.
Der Marxismus setzt auf Vergesellschaftung der Produktionsmittel. In der Frage des Etatismus und des Staates stehen sich Marxismus und Sozialdemokratie unvereinbar gegenüber. Daher macht die Kritik am Etatismus der Sozialdemokratie das Buch für Anarchokapitalisten[5] interessant. Willy Huhn vertritt einen von opportunistischen Rücksichten freien unrevidierten Marxismus, den Marx (1818 – 1883) und Engels (1820 – 1895) erst ab 1851 herausbildeten (vgl. Huhn (2003), S. 131). Sozialdemokratische Standpunkte von Kautsky (1854 – 1938) und Hilferding (1877 – 1941) sowie Lenin (1870 – 1924) und Trotzki (1879 – 1940) lehnt er ab, sie seien „durch Parteiunrat getrübt und vergiftet“. Die sozialdemokratischen Ideen von Lassalle (1825 – 1864) führen in den totalen Staat, den Totalitarismus.
„Je mächtiger der Staat, je politischer daher ein Land ist, umso weniger ist es geneigt, im Prinzip des Staates […] den Grund der sozialen Gebrechen zu suchen und ihr allgemeines Prinzip zu begreifen. Der politische Verstand ist eben politischer Verstand, weil er innerhalb der Schranken der Politik denkt. Je geschärfter, je lebendiger, desto unfähiger ist er zu der Auffassung sozialer Gebrechen“
Karl Marx (1844), Kritische Randglossen, MEW 1, S. 402, Hervorhebung im Original.
Partei fordert Parteinahme und stützt den Herrschaftsapparat. Politik ist von daher ein systemisches Problem. Von den Ideen – selbstbestimmt oder fremdbestimmt – hängt alles ab: Es gibt etatistische und staatskritische Schriften von Marx. Nur ohne den Staat lässt sich für Huhn Marxismus, also Vergesellschaftung, erreichen. Marx war soziologisch geprägt von jüdisch-deutscher Bürgerlichkeit. Er war Antisemit und Rassist. Marx bezeichnete Ferdinand Lassalle als „jüdischen Nigger“[6]. Für einen „Fehltritt“ mit seiner Haushälterin übernahm Friedrich Engels die Vaterschaft – aber immerhin war er kein Keynesianer, so Murray M. Rothbard (1926 – 1995) über Karl Marx. Die Antipathie von Marx zu Ferdinand Lassalle war beidseitig.
Die Legende Lassalle
Ferdinand Lassalle gründete am 23. Mai 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV). Dieses Datum bezeichnet die Geburtsstunde der deutschen Sozialdemokratie. Die etatistischen Ideen von Lassalle waren nicht neu, teilweise wurden sie schon 1848 auf einem Arbeiterkongress in Berlin vorgelegt. Die unterschiedlichen staatsphilosophischen Auffassungen von Ferdinand Lassalle und Karl Marx könnten kaum größer sein. Lassalle wird folgender Ausspruch zugeschrieben:
„Der Staat ist Gott!“[7]
Für einen Staat ist laut Ferdinand Lassalle alles möglich, z. B. Produktionsgenossenschaften mit Staatskredit. Staatszweck ist für ihn „die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit“[8]. Mehr staatsbejahende und staatserhaltende Gesinnung geht nicht. Wo der Staat Gott spielt und die Staatsgläubigkeit zur Religion erklärt wird, da ist der Mensch dem Menschen unterworfen. Lassalles Gesinnung ist totalitär. Totalitäre Staatsvergötterung findet sich bei Lassalle, nicht bei Marx – und schon gar nicht bei Ludwig von Mises. Ein allmächtiger Staat benötigt natürlich auch einen allwissenden Führer, denn einer muss bestimmen, wo es lang geht. Und wer ist dazu besser geeignet als Ferdinand Lassalle selbst? Julius Frese (1821 – 1883) beschreibt die Staatsphilosophie Lassalles wie folgt:
„Und warum machte er den Staat zum Gott? Weil er eine despotische, eine cäsaristische Natur war, ein Freiheitsmensch in seinen Begriffen, ein Gewaltmensch in seinem mächtigen Willen […] ein Herrschgewaltiger von oben“
Huhn (2003), S. 32, Hervorhebung im Original.
Die vormarxistische Arbeiterbewegung war in erster Linie von Wilhelm Weitlings (1808 – 1871) Ideen geprägt. Später war Lassalle für die Arbeiterbewegung maßgebender als Marx und Engels. Lassalle ist nicht der Begründer der Arbeiterbewegung, er verwandelte sie jedoch in eine selbständige politische Organisation. Daneben gab es die liberalen Arbeitervereine. In einem Brief an Bismarck regt Lassalle eine königliche „Diktatur des Proletariats“ an, die nicht von der Arbeiterklasse selbst, sondern in ihrem Namen und ihrem Interesse ausgeübt wird, vgl. Huhn (2003), S. 35. Dies setzt den selbstbestimmten Bestrebungen der Arbeiter ein Ende. Der Bolschewismus wird diese Konzeption später aufgreifen und es „demokratischen Zentralismus“ nennen. Die soziale Frage kann bei Lassalle „nur durch den Staat“ gelöst werden, durch eine Diktatur einer politischen Elite. Ferdinand Lassalle war „der bedeutendste Vorläufer des Nationalsozialismus und der erste Deutsche, der die Position des Führers anstrebte“, Mises (2023), Allmächtiger Staat, S. 72. Die Ideen der anerkannten Ahnen der deutschen Sozialdemokratie Lassalle, Fichte (1762 – 1814) und Rodbertus (1805 – 1875) bildeten das autoritäre und nationalistische Element des Nationalsozialismus, vgl. Hayek (2011), Der Weg zur Knechtschaft, S. 211 f.
„Es kann jedem Kenner des Lassalleanismus […] kaum noch zweifelhaft sein, aus welcher Richtung jene totalitären Züge kommen, die viele bürgerlichen Kritiker des Nationalsozialismus in der sozialdemokratischen Partei gesucht und gefunden haben“
Huhn (2003), S. 35.
Lassalle hatte sich selbst als Präsident des ADAV mit diktatorischer Gewalt ausgestattet. Er betrachtete die ADAV als sein Werkzeug und nicht als das der Arbeiterklasse. Nach dem Tode Lassalles 1864 zersplitterte der ADAV in bis zu 5 Organisationen. Im Jahr 1869 kam es zur Neukonstitution der Lassalleaner in Eisennach in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). In diesem Sinne ist Lassalle der Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Zur Vereinigung der lassalleansichen Sozialdemokraten mit den marxistischen Sozialisten unter Führung von August Bebel (1840 – 1913) und Wilhelm Liebknecht (1826 – 1900) als Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) kam es 1875 in Gotha. Für Karl Marx ist der Staat ungeeignet, das Problem „der Lohnarbeit [als] ein System der Sklaverei“ zu lösen, denn das Problem kann nur durch den Arbeiter selbst gelöst werden. In der Kritik des Gothaer Programms äußert sich Karl Marx zu den „Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe“:
„Statt aus dem revolutionären Umwandlungsprozesse der Gesellschaft ‚entsteht’ die ‚sozialistische Organisation der Gesamtarbeit’ aus der ‚Staatshilfe’, die der Staat Produktivgenossenschaften gibt, die er, nicht der Arbeiter, ‚ins Leben ruft’. Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, dass man mit Staatsanleihen ebenso gut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn!“
Marx (1875): Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 26 f., Hervorhebung im Original.
Mit dem Namen Sozialistische Arbeiterpartei verschwand die Bezeichnung Sozialdemokratie aus dem Parteinamen. Durch die Vereinigung 1875 gingen die marxistischen Sozialisten und die etatistischen Sozialdemokraten eine merkwürdige Verbindung ein, die ihren wahren Kern erst im Ersten Weltkrieg offenbarte. Dabei konnten die Lassalleaner sich auf das staatskapitalistische Aktionsprogramm des „Kommunistischen Manifests“ berufen, während die Stellung der Marxisten unklar war. Sie sprachen zwar vom „Absterben des Staates“, konnten aber nicht erklären, welche Form die Gesellschaft dann annehmen sollte. Die lassalleanische Tradition wurde nie überwunden. In den zahllosen sozialdemokratischen Parteiversammlungen war eher eine lassalleanische Ideologie tonangebend als die marxistische Theorie. Die theoretischen Diskussionen über die Unterscheidung von Verstaatlichung und Vergesellschaftung interessierte nur Intellektuelle und klassenbewusste Arbeiter. Der Beginn der Sozialpolitik unter dem „Arbeiterkaiser“ Wilhelm II (1859 – 1941) führte die Parteifunktionäre immer mehr an den Staat heran und zog sie in den Staat hinein. Der wichtigste Teil bei Huhn ist die Unterscheidung zwischen der marxistischen Vergesellschaftung und der lassalleanischen Verstaatlichung.
Der Streit um den Staatssozialismus
Die Begriffsverwirrung um Staat und Gesellschaft, d. h. die Vermengung und Identifizierung beider Begriffe in der sozialdemokratischen Theorie, gibt eine theoretische Erklärung für die staatssozialistische Zielsetzung und die staatsbejahende Haltung der Sozialdemokratie. Den Sozialismus über den Staat einführen zu wollen, ist die sozialdemokratische Theorie, den Staat nach einer Revolution absterben zu lassen, ist die marxistische Theorie, denn der Staat ist das Instrument der herrschenden Klasse. Die Sozialdemokratie tritt ein für eine andere Form des Staates, der Marxismus gegen den Staat an sich. Beide Theorien stehen sich diametral gegenüber. „Der Revisionismus als der Versuch, sich von den hemmenden marxistischen Gesichtspunkten zu befreien […] ist also nur der Versuch, die sozialdemokratische Theorie mit ihrer un-marxistischen, reformistischen Praxis in Übereinstimmung zu bringen“, so Huhn.[9] Das Ergebnis war eindeutig der Sieg des Lassalleanismus in der Sozialdemokratie. Bei der Betrachtung der deutschen und der russischen Sozialdemokratie muss der Bolschewismus als radikalere, konsequentere sozialdemokratische Theorie begriffen werden. Friedrich Engels versteht unter Vergesellschaftung:
„Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die gesamte Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt“
Friedrich Engels (1884): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 168.
Verstaatlichung ist das Instrument der Sozialdemokratie zur Verwirklichung des Sozialismus.[10] Der Staatskapitalismus ist die Fusion von politischer und wirtschaftlicher Macht im Staat. Eine Umwandlung der Produktionsmittel von Privateigentum in Staatseigentum hebt deren Kapitaleigenschaften nicht auf. Der Staat, indem er mehr und mehr Produktivkräfte in sein Eigentum oder seine Verfügungsgewalt bekommt, wird zum monopolistischen Gesamtkapitalisten. Der Staat selbst bleibt eine über der Gesellschaft stehende Macht, deren Interessen von den seinen verschieden sind. Eine Klasse ist eine ewige Kategorie, etwas Unabänderliches. Der Staat, vertreten durch die Regierung, und die Gesellschaft bilden zwei entgegenstehende Rechtsklassen. Die Herrscher, die „Recht“ festsetzen und Richter in eigener Sache sind, und die Beherrschten, die diesem gewillkürten „Recht“ unterworfen sind. Die alte Feudalherrschaft ist durch eine neue, zentralistische ersetzt worden. Der Herr hat gewechselt, für den Knecht ist nichts gewonnen. Verstaatlichung ist das falsche Mittel, um das Absterben des Staates zu erreichen.
Im Marxismus wird die Gesellschaft durch die Klasse[11] der Arbeiter gebildet. Um den Status quo zu überwinden, soll die Arbeiterklasse durch eine Revolution die Staatsgewalt ergreifen, den Staatsapparat vernichten und dafür sorgen, dass die Gesellschaft „offen und ohne Umwege“ von den Produktivkräften und Produktionsmitteln Besitz ergreift. Die dazu erforderliche politische Gewalt der Arbeiter besteht in ihrer eigenen Organisation als Klasse, die an die Stelle des zu vernichtenden „ideellen Gesamtkapitalisten zu treten hat. Der Staat sei durch Gewalt und Raub der ursprünglichen Akkumulation entstanden. Lehen verwandelte sich von Grundbesitz in Bodeneigentum und schließlich in Kapital; die Masse der Produzenten bleibt ausgeschlossen. Da die erste Aneignung nicht legitim war, ist der heutige Rechtstitel am Eigentum prekär.
Die marxistische Idee übersieht dabei, dass die Arbeiter ebenfalls nicht die legitimen Eigentümer sind. Sie haben einen Arbeitsvertrag unterschrieben. In einem Vertrag geben alle Parteien den sichtbaren, objektiven Beweis durch ihre Handlungen, dass sie die einzigartige gemeinsame Basis gefunden haben, die jeder akzeptiert, wenn auch nur murrend, aber ohne, dass jemand gezwungen wird, eine Alternative aufzugeben, die er in seiner Reichweite hatte und lieber gehabt hätte. Von daher ist die Rechtfertigung zur Revolution seitens der Arbeiter ein Produkt ungeordneten Denkens:
„Menschen Wiedergutmachung für eine Ungerechtigkeit abzuverlangen, die sie nicht begangen haben, ist selber eine Ungerechtigkeit, was den Schluss nahelegt, dass ein Gerechtigkeitskonzept, das so etwas fordert, inkohärent, also ein Produkt ungeordneten Denkens ist“
Anthony de Jasay (2007): Liberale Vernunft, Soziale Verwirrung, S. 129 f.
Aber Marx und Engels erkennen, wie schon David Hume (1711 – 1776), dass der Staat wegen ökonomischer Interessen existiert. Legitim sind nur Übereinkünfte, die auf Freiwilligkeit beruhen. Der Staat stirbt ab, wenn die Menschen aus materiellen Interessen damit beginnen, ihre Angelegenheiten wieder selbst in die Hand zu nehmen, eine Gegenökonomie (Agorismus)[12] beginnen. Gerade Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs bieten solche Anreize. Jedes menschliche Handeln, das Abseits von staatlichen Regelungen begangen wird, ist Gegenökonomie. Menschen müssen wieder lernen, ohne staatliche Einmischung zu handeln, ohne die Verwendung von staatlichem Geld, ohne Konfliktlösung durch staatliche „Rechtsprechung“. Erst dann werden sie in der Lage sein, den Staat dorthin zu schicken, wo er hingehört: „ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt“.
Staatskapitalismus erfordert allumfassendes Wissen für den zentralen Planer. Dies ist unmöglich. Hayek (1899 – 1992) nennt dies treffend „Anmaßung von Wissen“. Verstaatlichung bedeutet auch die Abschaffung des unternehmerischen Risikos. Ludwig von Mises wies nach, dass der Staatskapitalismus in wirtschaftlichen Bankrott enden muss, da es im Monopol keinen Preiswettbewerb gibt. Daraus folgt, dass wirtschaftliche Probleme nur mit wirtschaftlichen Mitteln gelöst werden können, nicht aber mit politischen Mitteln. Davon abgesehen betriff die in der ökonomischen Analyse betonte Knappheit nicht nur den wirtschaftlichen Bereich. Sie ist ein allgemein gesellschaftlicher Tatbestand, der die zwischenmenschliche Unvereinbarkeit vieler Bedürfnisse und Interessen involviert. Eine Transformation der individuellen Wünsche in ein für alle akzeptables und daher in diesem Sinne legitimes Ergebnis ist unmöglich. Wenn es eine solche ideale Gesellschaftsordnung nicht geben kann, kann die Politik auch nicht die Aufgabe haben, sie zu realisieren.
Vom Sozialistengesetz zum Kriegssozialismus
Seit 1895 nahmen die Verstaatlichungsvorschläge der Sozialistischen Arbeiterpartei ständig zu. Die Sozialdemokratie nahm bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg immer mehr Kurs auf den Etatismus. Die Mehrheit der Partei begrüßte diese Entwicklung als Staatssozialismus. Revisionisten und Reformisten setzten sich allmählich in den sozialdemokratischen Parteien durch und traten überall für eine Ausdehnung der Staatsmacht ein. Nichts offenbarte jenseits aller sozialistischen Sonntagspredigten und marxistischen Feierstunden den wahren Geist der sozialdemokratischen Partei so deutlich wie der Wandel ihrer Einstellung zur Budget- und Steuerpolitik. Seit 1891 war das Ergebnis der Auseinandersetzung typisch: Prinzipiell hielt man an der Budgetverweigerung fest, ließ aber Ausnahmen zu „aus zwingenden, in besonderen Verhältnissen liegenden Gründen“.
Mit diesem Präzedenzfall waren die Sozialdemokraten gefangen und hatten keine guten Argumente gegen eine Ablehnung mehr. 1910 stimmten sie wieder für das Budget. Die Wehrvorlage von 1913 war faktisch die militärpolitische Vorbereitung auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Mit diesem Ereignis wurde die Sozialdemokratie gezwungen, den längst eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Die Bewilligung der Kriegskredite im August 1914 ist eine notwendige Folge der gesamten sozialdemokratischen Budgetpolitik bis 1914. Die Entscheidungen der Sozialdemokratie zu Beginn des Ersten Weltkrieges zeigten deutlich den Sieg staatsbejahender Ideen, den Sieg des Lassalleanismus in der Sozialdemokratie. Ihre Haltung zur Kriegswirtschaft offenbarte ihren staatssozialistischen Charakter. Stehen wir nicht mit dieser und den anderen Auffassungen des modernen Etatismus und Kriegssozialismus schon vor recht entwickelten Keimformen des späteren „Nationalsozialismus“?
Die Ideen von 1914 und die Folgen
Die Identifizierung des Militarismus mit dem Staatssozialismus wurde spätestens seit 1914 von der SPD als der einzig wahre nationale und zivilisierte Sozialismus akzeptiert. 1915 wurde die Mehrheitssozialdemokratie vor der Weltgeschichte die erste nationalsozialistische Partei. „Nennen sich doch schon heute Sozialisten demokratischer Staatswesen gern Nationalisten“, so im „Vorwärts“, in: Huhn (2003), S. 63.
„Um in der Zeit der schwersten Prüfung der Nation bestehen zu können, musste der Sozialismus national, die Regierung der Nation aber auch sozialistisch empfinden und handeln lernen. […] Als gewaltige Reformpartei wird die Sozialdemokratie innerhalb des staatlichen Organismus in den nächsten Jahren nationale Arbeiterpolitik treiben“
Anton Fendrich (1915): Der Krieg und die Sozialdemokratie, S. 16, 27, 30. In: Huhn (2003), S. 63 f.
Der Kriegssozialismus des Ersten Weltkrieges war eindeutig die von der Sozialdemokratie theoretisch geforderte und praktisch geförderte Nationalisierung der Gesellschaft. Dabei lieferten die Kathedersozialisten an den Universitäten die Ideologie, die es „wissenschaftlich“ ermöglichte, die Kriegswirtschaft als „Kriegssozialismus“ zu feiern, und dadurch fanden diese neuen Lassalleaner den theoretischen Mut, in der deutschen Kriegswirtschaft die Verwirklichung von Fichtes „geschlossenem Handelsstaat“ zu entdecken. Es gibt keine Konstanten im menschlichen Handeln, möchte man da entgegnen. Dadurch konnten sich die Konsequenteren der Sozialdemokraten aus den Fesseln der marxistischen Doktrin befreien. Entweder Kapitalismus oder Sozialdemokratie, ein Mittelding gibt es nicht, eine Erkenntnis, die auch schon in ähnlicher Weise Ludwig von Mises äußerte. Die Staatsgläubigkeit der Sozialdemokratie kommt in dem folgenden Zitat besonders schön zum Ausdruck:
„Durch die Republik hat die Sozialdemokratie dem Volke sein höchstes Gut, den Staat gerettet; denn wo kein Staat ist, das ist Anarchie. Wo Anarchie ist, das kann wohl Kapitalismus gedeihen, aber niemals Sozialismus. Wenn ich sage: Republik und Sozialismus, Republik und Sozialdemokratie gehören zusammen, dann heißt das auf die heutigen Verhältnisse angewandt genau so viel wie, als wenn ich sage: Staat und Sozialismus, Staat und Sozialdemokratie gehören zusammen“
Hans Staudinger (1932): Der Staat als Unternehmer. In: Huhn (2003): S. 76.
Nach der Spaltung von 1916 zeigt die Mehrheitssozialdemokratie in voller Reinheit das Gesicht einer lassalleanischen Partei, die nicht nur den Gedanken der „sozialen Monarchie“ wieder belebte, sondern sich auch 1921 in Görlitz ein eindeutig staatssozialistisches – nationalsozialistisches – Programm gab. Es war ein Sieg der Ideen Lassalles über die Ideen Marx‘ und Engels‘. Der deutsche Nationalsozialismus entstand also 1914 und zu einem wesentlichen Teil innerhalb der rechten Sozialdemokratie, und er endete hier bald nach dem Görlitzer Programm von 1921, um auf einer anderen Grundlage teils konsequenter, teils variiert fortentwickelt zu werden.
„Der Nationalsozialismus löste also auf deutschem Boden und unter den gesellschaftlichen Bedingungen der deutschen Nation die geschichtliche Aufgabe, die das imperialistische Zeitalter stellt und die auf russischem Boden und unter den gesellschaftlichen Bedingungen der russischen Nation der Bolschewismus löste. Und nicht die Sozialdemokratie, die doch ihrem Wesen nach wie die russische Sozialdemokratie diese Aufgabe hätte lösen können, sondern der Nationalsozialismus nimmt sie auf sich, weil die SPD den Gedanken der Parteidiktatur ablehnte. Damit brachte nicht die Sozialdemokratie, sondern bringt der Nationalsozialismus eine geschichtliche Entwicklung zu einem praktischen Abschluss, die theoretisch von den bürgerlichen ‚Kathedersozialisten‘ antizipiert und von dem ‚Verein für Sozialreform‘ konzipiert wurde“
Huhn (2003), S. 118.
Referenzen
Huhn, Willy (2003): Der Etatismus der Sozialdemokratie – Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus, Freiburg.
Blankertz, Stefan (2014): Mit Marx gegen Marx – 11 x 11 Thesen, Berlin.
Ders. (2015): Anarchokapitalismus – Gegen Gewalt, Berlin.
Jasay, Anthony de (2007): Liberale Vernunft, Soziale Verwirrung, Flörsheim.
Burkhard Sievert engagiert sich als Sektionsleiter in der Atlas Initiative. Von Anthony de Jasay übersetzte er die Bücher Der Gesellschaftsvertrag und die Trittbrettfahrer, Gegen Politik, Der Indische Seiltrick und die Politische Philosophie sowie legte er das Buch Liberalismus neu gefasst wieder auf. Von Ludwig von Mises brachte er das Buch Allmächtiger Staat als deutsche Übersetzung von Omnipotent Government heraus.
[1] Huhn, Willy (2003): Der Etatismus der Sozialdemokratie – Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus.
[2] Die räumlichen Attribute rechts und links berühren sich auch in ihren Extrempositionen nicht. Beide vorgeblichen Extreme Nationalsozialismus und Bolschewismus waren mörderisch gegenüber ihren Staatsbürgern. Eine räumliche Zuschreibung wird deren Opfern nicht gerecht.
[3] Es zeigt auch, dass Staatssozialismus zum Scheitern verurteilt ist, weil der Zentralismus das Preis- und Informationsproblem nicht lösen kann. Was ist an einer Zwangsgesellschaft sozial?
[4] Man denke nur an den Aufruf zum Sozialismus von Gustav Landauer (1870 – 1919).
[5] Die Privatrechtsgesellschaft ist eine geordnete Anarchie. Ich bevorzuge daher das Wort „Anarchokapitalisten“ für deren Anhänger anstatt „Libertäre“.
[6] Karl Marx (1862), Brief an Friedrich Engels, MEW 30, S. 257.
[7] Gustav Mayer (1929): Aus der Welt des Sozialismus, S. 43, unter Bezug auf Julius Frese, Zur Frage von der Staatshilfe, in Democratische Correspondenz, vom 29. März 1870, zitiert in: Huhn (2003), S. 31.
[8] Lassalle: Das Arbeiter-Programm, Vortrag, gehalten am 12. April 1862. Abgedruckt in: Ferdinand Lassalle: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 2, Paul Cassirer, 1919, Berlin, S. 147-202.
[9] Huhn (2003), S. 106.
[10] Vgl. Friedrich Engels (1880): Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, S. 221 f.
[11] Das korrekte Wort für streng voneinander abgegrenzt bestehende gesellschaftliche Schichten wäre eigentlich „Kaste“.
[12] Der Begriff Agorismus steht für einen Platz, an dem die gesellschaftlichen Angelegenheiten ohne Einbeziehung des Staates geregelt werden. Der Begriff geht weit über die wirtschaftlichen Begriffe Angebot und Nachfrage hinaus. Der Begriff bezieht sich auf die Agora, das griechische Wort für Marktplatz.